Verfügbarkeit vs. Leistbarkeit von Wohnraum am Beispiel von drei Grosszentren
Von Leonard Fister, Christian Kraft und Daniel Steffen
In Zürich ist weniger das allgemeine Preisniveau
das Problem, sondern die sehr wenigen und teuren neuen Wohnungen. Haushalte mit
höheren Einkommen aus dem Umland absorbieren diese Wohnungen schnell. Der
Nachfrageüberhang ist hoch. Knappheit und erhöhte Neumieten in der Stadt mit
Verdichtung zu bekämpfen, gleicht einem Kampf gegen Windmühlen. Im Umland sind
die Märkte jedoch intakt, der kleinere Lock-In Effekt sorgt für mehr Liquidität.
Zur Sicherung der Grundversorgung mit Wohnraum sollte deshalb die Agglomeration
im Fokus stehen, nicht die Innenstadt.
Wohnraum in urbanen Zentren ist knapp, aber trotzdem bezahlbar?
Die Wohnsituation in urbanen Zentren ist angespannt: Im Verhältnis zur Grösse des Wohnungsbestands kommen nur sehr wenige Objekte auf den Markt, welche wiederum in kürzester Zeit wieder vermietet sind. Gerade in Grossstädten wird in diesem Zusammenhang oft auch von Wohnungsknappheit – oder sogar Wohnungsnot – und entsprechend hohen und weiter steigenden Mieten gesprochen. Naheliegend ist daher die Frage, ob es sich Haushalte überhaupt noch leisten können, in diesen Städten zu wohnen.
Abbildung
1 zeigt, dass sich die Bevölkerung in Zürich ihre bestehenden Mietverhältnisse grossmehrheitlich
gut leisten kann. Die Mietbelastung misst den Anteil des Bruttohaushaltseinkommens,
der für die Bestandsmiete aufgebracht werden muss. Im Median trägt der
Stadtzürcher Haushalt eine Mietbelastung von rund 17% des Einkommens. Dies ist
vergleichbar oder sogar leicht tiefer als die Mietbelastung in den umliegenden
Arbeitsmarktregionen. Die Mietbelastung in der Stadt Zürich ist sogar leicht tiefer
als in der gesamten Schweiz mit 19%.
Eine naheliegende Erklärung für die tiefe Mietbelastung
in der Stadt Zürich wären erhöhte Einkommen. Doch Abbildung 2 zeigt, dass die Haushaltseinkommen
im Vergleich zu den umliegenden Arbeitsmarktregionen nur zum Teil leicht erhöht
sind. Mit einem Medianeinkommen von rund CHF 108'000 pro Jahr befindet sich
Zürich praktisch auf Augenhöhe mit den Regionen Uster-Dübendorf, Kloten, Wetzikon
oder Dietikon-Schlieren. Somit bewegen sich in Zürich auch die Bestandsmieten
im Bereich vieler umliegenden Regionen.
Wie ist das zu erklären? Der Schlüssel liegt in unterschiedlichen Wohnungs- und Marktstrukturen:
- Stadtzürcher haben für vergleichbare Mieten weniger Fläche zur Verfügung. Haushalte leben mit einer vergleichbaren Mietbelastung auf kleinerem Raum (siehe Abbildung 3).
- Der Lock-In Effekt trifft Zürich besonders hart. Der Anreiz, in einer günstigen Wohnung zu bleiben, ist mangels Verfügbarkeit und aufgrund des hohen Zuschlags für neue Wohnungen gross. Dadurch bekommen langfristige und günstige Mietverhältnisse im Vergleich zum Umland ein Übergewicht.
- Im Umland funktionieren die Märkte besser. Die Angebotsquoten sind deutlich höher. Beim Wunsch einer neuen Wohnung haben Haushalte mehr Möglichkeiten. Durch diese strukturell höhere Liquidität bekommen kürzere Mietverhältnisse mit höheren Mieten ein höheres Gewicht.
Viele Haushalte im Umland könnten sich auch Stadtzürcher Mieten leisten
Im
Gegensatz zum Bestand gestaltet sich die Situation, aufgrund der Stadtzürcher
Knappheit für neue Wohnungen, etwas anders. Doch auch hier ist es beachtlich, wie
viele Haushalte aus benachbarten Regionen sich die Miete einer neuen Wohnung in
Zürich leisten könnten. Wir analysieren, welcher Anteil der Haushalte einer
Arbeitsmarktregion sich die Miete einer bestimmten Wohnung in der jeweiligen
Stadt leisten könnte. Dazu nehmen wir Angebotsmietpreise von drei
verschiedenen Wohnungstypen (50m2, 90m2, 140m2)
und drei verschiedenen Preisklassen (günstigste 20%, 50% und 75%)[1] aus
der jeweiligen Stadt, und vergleichen diese mit den Einkommen von Haushalten,
die momentan in ähnlich grossen Wohnungen in umliegenden Arbeitsmarktregionen
leben. Eine Wohnung wird als leistbar betrachtet, wenn die Bruttomiete weniger
als ein Drittel des Bruttohaushaltseinkommens ausmacht.
Das oberste Panel in Abbildung 4 zeigt, dass sich z.B. 28.8% (roter Balken) der Haushalte, die momentan in der Arbeitsmarktregion Baden in einer Wohnung bis 60m2 wohnen, die günstigsten 75% Stadtzürcher Wohnungen[2] ähnlicher Grösse leisten könnte, ohne mehr als ein Drittel ihres Einkommens dafür aufwenden zu müssen. 48% der Badener Haushalte könnten sich die günstigsten 50% der Wohnungen in Zürich leisten (roten und grüner Balken) und 66.9% könnten sich die günstigsten 20% der Wohnungen leisten (roter, grüner und blauer Balken zusammen). Im Vergleich dazu können sich z.B. 57% der Haushalte, die schon in Zürich wohnen, die 50% günstigsten Wohnungen in Zürich leisten. D.h. die Leistbarkeit für kleinere Wohnungen in Zürich ist für Haushalte aus Baden etwas geringer als für jene in Zürich. Neben Baden ist die Leistbarkeit von kleineren Wohnungen auch für Haushalte in den Arbeitsmarktregionen Wetzikon und Winterthur beschränkt, während sich die Leistbarkeit für Haushalte in allen anderen umliegenden Arbeitsmarktregionen kaum von derjenigen von Haushalten, die bereits in Zürich sind, unterscheidet.
Bei mittelgrossen Wohnungen (Abbildung 4, mittleres Panel) sind die günstigsten 75% und die günstigsten 50% in der Stadt Zürich in allen Arbeitsmarktregionen für einen vergleichsmässig grossen Teil der Haushalte leistbar. Für grössere Wohnungen wäre die Leistbarkeit in den Arbeitsmarktregionen Baden, Dietikon-Schlieren, Kloten, Wetzikon und Winterthur deutlich tiefer als für Haushalte, die bereits in Zürich wohnen. Bei grösseren Wohnungen ist die Leistbarkeit hingegen für Haushalte aus vier Arbeitsmarktregionen deutlich geringer als für Zürcher Haushalte.
Die Leistbarkeit scheint für Haushalte im Umland also oft (abgesehen von grösseren Wohnungen) sehr ähnlich zu sein wie für Haushalte, die bereits in Zürich wohnen. Damit dürfte das Argument, dass sich viele Haushalte aus der Agglomeration Zürcher Wohnungen nicht leisten können, nicht ausschlaggebend sein.
Stärker
ins Gewicht fällt dagegen die mangelnde Verfügbarkeit von Wohnungen in Zürich.
Die Angebotsziffer ist für alle Wohnungstypen mit 0.3% bis 0.6%
ausserordentlich tief. Die Angebotsziffer in den umliegenden
Arbeitsmarktregionen liegt um ein Vielfaches höher (Abbildung 5). Das heisst, für
Haushalte, die in Zürich wohnen möchten, ist die grösste Hürde, dass es
schlicht keine freien Wohnungen gibt.
Diese Auswertungen zeigen, dass der Versuch, die Preisentwicklung neuer Wohnungen in der Stadt Zürich mit zusätzlichem Angebot zu dämpfen, einem Kampf gegen Windmühlen gleicht. Der Nachfrageüberhang ist sehr hoch und neue, teurere Angebote werden von Haushalten mit erhöhten Einkommen aus dem Umland, die in der Stadt wohnen möchten, schnell absorbiert. Die strukturellen Gründe für hohe Neumieten in der Stadt Zürich mit Verdichtung zu bekämpfen, ist ein ausserordentlicher Kraftakt. Genossenschaften bieten mit moderaten Mieten im kostendeckenden Modell eine gute Lösung, auch für neue Wohnungen. Doch dieses Angebot erreicht nicht immer die Haushalte, die es eigentlich benötigen.
In der näheren Agglomeration sind die Märkte jedoch noch weitestgehend intakt. Das Grundangebot ist höher, Bestands- und Neuvermietungsmärkte liegen noch näher zusammen, gesellschaftlicher Widerstand und Prozesshürden für zusätzliche Angebote sind tiefer. Investitionen in Neubau und Erweiterungen können in diesen Regionen viel schneller eine preisdämpfende Wirkung entfalten als in der Stadt Zürich. Der Versuch, mehr Ressourcen zur Verdichtung in die Stadt Zürich zu lenken, darf somit keinesfalls auf Kosten der Entwicklungsaktivität im Umland gehen. Oder anders ausgedrückt: Die Funktionssicherung der Agglomerationsmärkte ist gesamtgesellschaftlich wichtiger als wenige, teuer erkämpfte neue Wohnungen in der Stadt Zürich.
Kombination aus mangelnder Verfügbarkeit und Leistbarkeit in Genf
In Genf gestaltet sich die Situation anders als in Zürich. Aus kleinen Wohnungen könnten sich Haushalte aus fünf von neun umliegenden Arbeitsmarktregionen einen Umzug in eine Genfer Wohnung (teils deutlich) weniger gut leisten als Haushalte, die bereits in Genf wohnen (Abbildung 6, oberstes Panel). Für mittelgrosse und grosse Wohnungen ist die Lage vergleichbar: Ähnlich gut wie bereits in Genf lebende Haushalte, ist für Haushalte aus den Arbeitsmarktregionen Nyon, Le Grand-Saconnex, Thônex–Chêne-Bougeries und Vernier-Lancy eine Wohnung im Stadtgebiet tragbar. Für Haushalte in Rolle-Saint-Prex sind zumindest mittelgrosse Wohnungen in Genf einigermassen gut bezahlbar, in den vier übrigen Regionen sind alle Wohnungstypen in Genf nur beschränkt leistbar.
Gleichzeitig variiert die Angebotsziffer in Genf sehr stark nach Wohnungsgrösse. Während kleinere Wohnungen kaum verfügbar sind (Angebotsziffer 1%), kommen deutlich mehr mittelgrosse (2.5%) und vergleichsweise viele grosse Wohnungen auf den Markt (6.2%) (Abbildung 7). Damit sind mittlere und grössere Wohnungen in Genf etwa im selben Ausmass verfügbar, wie in dessen Umland, während kleinere Wohnungen im Vergleich knapp auf dem Markt sind.
In Genf scheint damit die Leistbarkeit von Wohnraum für Haushalte aus dem Umland eine grössere Hürde zu sein als in Zürich. Bei kleinen Wohnungen kommt ebenfalls eine mangelnde Verfügbarkeit hinzu. Bei grösseren Wohnungen ist die Verfügbarkeit sogar auffallend hoch, es dürfte eher an der Höhe der Miete liegen, warum Haushalte, die nach Genf ziehen wollten, dies nicht können. Allerdings ist Genf mit dem angrenzenden Ausland und dem hohen Anteil an Grenzgängerinnen und Grenzgängern ein Spezialfall, für den auch angrenzende Regionen im Ausland mit einbezogen werden müssten und der damit nur beschränkt mit anderen Schweizer Städten verglichen werden kann.
Deutlich entspanntere Lage in Lausanne
Wiederum anders gestaltet sich der Fall in Lausanne. Kleinere Wohnungen im Stadtgebiet sind für Haushalte aus allen umliegenden Arbeitsmärkten ähnlich gut leistbar, wie für Haushalte, die bereits in der Kernstadt Lausanne wohnen (Abbildung 8, oberstes Panel). Bei mittelgrossen Wohnungen sieht es ähnlich aus. Lediglich Haushalte aus der Region Le Chenit weisen eine deutlich schlechtere Leistbarkeit aus als Haushalte, die bereits in der Kernstadt Lausanne wohnen (46% gegenüber 60% der Haushalte könnten sich die günstigsten 50% der Wohnungen in der Kernstadt Lausanne leisten; Abbildung 8 mittleres Panel). Etwas tiefer ist die Leistbarkeit für grössere Wohnungen: 43% der Haushalte in Le Chenit, 51% in Yverdon-les-Bains und 52% in Bulle könnten sich die 50% günstigsten grossen Wohnungen in der Kernstadt Lausanne leisten, gegenüber 70% der Haushalte, die bereits in Lausanne in ähnlichen Wohnungen leben (Abbildung 8, unterstes Panel).
Auch hinsichtlich der Verfügbarkeit ist die Lage
in Lausanne (Abbildung 9) entspannter als in Zürich und Genf. Mit einer
Angebotsziffer zwischen 2.2% und 3.6% ist zwar weniger Wohnraum als im direkten
Umland verfügbar. Im Vergleich bietet Lausanne aber ein deutlich grösseres
Angebot als der Grossraum Zürich. Insgesamt sind Wohnungen in Lausanne somit
für einen grossen Teil der Haushalte des Umlands gut leistbar und auch
verfügbar. Die Entscheidung, nicht in der Kernstadt zu wohnen, dürfte daher im
Vergleich zu anderen Grossstädten stärker durch individuelle Präferenzen
getrieben sein.
Fussnoten:
[1] Günstigste 75% heisst, dass wir den Mietpreis des 75. Perzentils genommen haben. Das heisst, 75% der Wohnungen in dieser Grösse sind billiger und 25% teurer.
[2] Oft schauen sich Akteure auf dem Immobilienmarkt das 75. Perzentil der Angebotsmieten an, um einen Richtwert für Mietpreisgestaltung für Neubauwohnungen zu schätzen. D.h. die günstigsten 75% Wohnungen können auch als Richtwert genommen werden, wie viele Haushalte sich Wohnungen in Neubauten (Erstbezug) leisten könnten.